Schreiben hilft über den Schmerz …

Mit 34 Jahren wurde ich das erste Mal schwanger, gleich im ersten Übungszyklus. Weder mein Mann noch ich hatten damit gerechnet, meine Eltern hatten 10 Jahre lang versucht, mich zu bekommen und auch mein Bruder hat danach nochmal acht Jahre gedauert. Meine Mutter ist Einzelkind, ihre Mutter hat ein weiteres Baby still geboren. 
Wir waren überglücklich, die Schwangerschaft war wie im Bilderbuch und neun Monate später hielt ich unseren Sohn in den Armen. Nach der ersten Euphorie stellte sich eine schwere Wochenbettdepression ein; ich weinte Tag und Nacht, war unglücklicher als je zuvor in meinem Leben und haderte. Wollte einfach nur noch weglaufen. Mein Sohn schrie und schrie und ich stürzte immer tiefer in das Loch. Wochenlang kam ich nicht heraus, zum Glück hatte ich gute Freunde, die mich aufbauten. So war es auch nicht verwunderlich, dass ein zweites Kind keinesfalls in Frage kam. Meine Ehe würde das kein zweites Mal überleben, war mir klar. Ich konnte nicht verstehen, wie ich jemals von zwei Kindern geträumt hatte. Dann, als mein Sohn zweieinhalb war, hatten wir uns beide so weit "erholt", dass wir es wieder versuchen wollten. Aber die erwartete Sofort-Schwangerschaft blieb aus. Es vergingen eineinhalb Jahre und ich war mittlerweile überzeugt, er bleibt ein Einzelkind, mein Mann und/oder ich seien unfruchtbar, zu alt, was auch immer. Es sei die Strafe dafür, dass ich so undankbar gewesen war und nicht die glücklichste Mutter der Welt. Ich hasste mich und meinen Körper für dieses Versagen. 

Und dann, ganz unerwartet, nach fast 18 Monaten "Üben" war da dieser zweite Strich auf dem Test. Wir konnten unser Glück nicht fassen. Jeden Tag rechnete ich mit einer Blutung, ich bin ohnehin ein ängstlicher Mensch und hatte auch schon bei meinem Sohn damals ständig damit gerechnet, dass ich eine Fehlgeburt haben würde.  Wir waren in den Bergen im Urlaub wandern gewesen und ich litt unter Übelkeit und Kreislaufproblemen, musste aber jeden Tag darüber nachdenken, ob das Baby noch lebt. Ich hatte panische Angst davor, eine "missed abortion" zu haben, von der mir eine Freundin erzählt hatte. Ich kam nach dem Urlaub zu meiner Ärztin, aufgelöst, sie solle bitte schauen, ob alles in Ordnung sei, ich hätte ein schlechtes Gefühl. Sofort machte sie einen Ultraschall: Alles war in Ordnung, das Herzchen schlug kräftig. Ich bekam ein schönes Ultraschallbild aus der zehnten Woche und ging - endlich ohne Angst - nach Hause. Zehn Wochen waren um; die erste "kritische" Phase fast geschafft. Meine Ärztin fuhr vier Wochen in den Urlaub und ich machte einen Termin bei einer Pränataldiagnostikerin aus. Kaum war das erste Trimester um, ließen die Symptome nach. 
Drei Wochen später fuhr ich  einigermaßen entspannt und gut gelaunt zur Pränataldiagnostik. Ich hatte zwar ein wenig Bammel, da ich doch schon 39 war und man überall nur hörte, dass das Fehlbildungsrisiko so stark anstieg, aber irgendwie war ich doch optimistisch. Die Ärztin rechnete mir dann auch erst einmal vor, wie das Risiko in meinem Alter aussehe - ich wäre am liebsten gegangen, die Statistiken kannte ich schon zur Genüge, dafür war ich nicht hergekommen. Ich fühlte mich auf diesen einen Faktor reduziert, wie eine unvernünftige alte Frau, die noch ein Kind zur Welt bringt. Dass ich super gesund lebe, nie geraucht habe, mich gesund ernähre und immer mindestens 5 Jahre jünger geschätzt wurde, völlig egal in diesem Moment. "Bei Entbindung 40!!" prangte da in roten fetten Buchstaben auf dem Monitor. Dann machte sie den Ultraschall. Ich sah sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie war so still und schraubte an dem Gerät herum. Nach einer kurzen Zeit sagte sie: "Es tut mir leid. Ich kann keinen Herzschlag finden." Dieser Satz hängt mir bis heute nach. Der Schock in dem Moment, wie ich da lag. Das erfahren hatte, womit ich so lange gerechnet und dann doch verworfen hatte. Ich funktionierte wie ein Roboter. Fragte nach den Ursachen. Toxoplasmose, von den Nachbarskatzen, irgendwas, etwas das ich verstehen konnte. Doch sie packte wieder nur ihre Tabelle aus, zeigte auf die Altersstatistik und meinte, in meinem Alter sei das am wahrscheinlichsten eine Chromosomenstörung. Wieder dieser versteckte Vorwurf. Wie konnte ich es wagen... (Anm.: mein gesamter Freundes- und Kollegenkreis ist in derselben Altersklasse unterwegs, dass ich meinen Mann so spät erst kennengelernt hatte, dass ich als Akademikerin mit 35 beim ersten Kind gut "im Schnitt" lag, alles vergessen...). Wie in Trance nahm ich ihre Empfehlungen entgegen, die Krankschreibung (die erste meines Lebens), hörte den Versuch, telefonisch einen Termin in der Frauenklinik ausmachen zu können. Ich ging aus der Praxis, rief unter Tränen meinen Mann und zwei Freundinnen an. Fuhr nach Hause zu meinem Mann, der alles stehen- und liegengelassen hatte im Büro und mich in die Arme nahm. Zwei Stunden später fuhren wir in die Klinik. 
Dort saßen wir drei Stunden auf dem Flur, bevor wir überhaupt mal drankamen. Zweifel in mir, ob die Diagnose stimmte. Warum nach dem ersten Trimester sowas noch passierte. Das Bild des Babys vor Augen. Die Aussage der Ärztin, es hätten sich um das Baby schon Wassereinlagerungen gebildet. Aber es sei altersgerecht entwickelt, es sei erst ein paar Tage her. Ich überlegte hin und her, was ich vor ein paar Tagen falsch gemacht hatte. 

Eine junge Assistenzärztin schallte bestimmt zehn Minuten, ich lag auf dem Stuhl wie ein Roboter. Konnte es nicht begreifen. Sie bestätigte die Diagnose, sagte es tut ihr sehr leid. Ich bedankte mich, dass sie sich die Zeit genommen hatte und fragte was ich tun sollte. Sie legte mir zwei Tabletten hin und sagte ich solle das nehmen, das würde den Muttermund öffnen, dann würde man ausschaben. Es war das gleiche Medikament, das ich für die Geburtseinleitung bei meinem Sohn zwei Tage lang bekommen hatte und völlig wirkungslos geblieben war; danach war ein Kaiserschnitt gemacht worden. Das sagte ich ihr. Daraufhin war sie plötzlich total verunsichert. Sie müsse mit der Oberärztin reden. Wir warteten wieder eine Stunde und dann ging der Horror erst richtig los: Die Ärztin rief uns herein, verkündete mir, noch bevor ich saß, "wir wissen nicht, was wir mit Ihnen machen sollen. Es gibt keine Alternative. Aber das Medikament ist lebensgefährlich für Sie." Mein Mann und ich waren beide geschockt. Beide aber, im Funktionsmodus, versuchten aus dem, was sie sagte, irgendwie schlau zu werden, stellten Fragen. Sie wiederholte immer wieder: " das Kind muss raus. Sonst bekommen Sie eine Sepsis. Wir müssen Ihnen das Medikament geben, wir haben kein anderes. Abwarten? Nein, da bekommen Sie eine Sepsis. Das Medikament ist bei vorherigem Kaiserschnitt kontraindiziert. Ihre Narbe an der Gebärmutter kann reißen. Das merken Sie nicht. Nein, das merken Sie nicht. Sie verbluten dann innerlich. Ja, da besteht Lebensgefahr. Nein, das merken Sie nicht. Nein, Sie können nicht zur Beobachtung hierbleibe." Ich sagte ihr, dass ich eine Vierjährigen zuhause habe und mein Überleben jetzt meine oberste Priorität sei, ich hätte mir sogar die Gebärmutter herausoperieren lassen in dem Moment, wenn ich gemusst hätte. Sie sagte mir immer wieder, ich könne verbluten, sie hätten keine Alternative, ich solle das Medikament jetzt nehmen und heimgehen. Wenn ich starke Schmerzen hätte oder blute, solle ich wiederkomme, dann müsse man mich aufnehmen, dann bestehe Lebensgefahr. Weder mein Mann noch ich verstanden, was sie sagen wollte. Haben immer wieder nach einem Plan B gefragt, wenn das Medikament (wie bei meinem Sohn) nicht anschlagen würde. Wir bekamen immer kürzere, genervtere Antworten. Irgendwann stand sie auf, sie habe jetzt keine Zeit mehr und ging. Wir gingen nach Hause und ich weinte stundenlang. Überzeugt, sterben zu müssen, meinen Sohn als Halbwaise zurück zu lassen. Mein Mann wollte in eine zweite Klinik, aber wir hatten keine Überweisung mehr. Ich sprach mit der Freundin einer Freundin, die Gynäkologin ist, aber selbst gerade im Urlaub war. Sie erklärte mir alles ganz ruhig. In meiner Not rief ich auch die Pränataldiagnostikerin nochmals an. Auch sie beruhigte mich, die Wahrscheinlichkeit einer Ruptur läge unter 1%. In den nächsten 48 Stunden würde ich Wehen bekommen. Und so war es: Nach 36 Stunden nachts ging es los. Es war erträglich, ich hatte früher vor meiner ersten Geburt schlimme Menstruationsschmerzen, genauso war es auch jetzt. Es blutete nicht, aber nachts um vier weckte ich meinen Mann und bat ihn, mich ins Krankenhaus zu fahren. Dort angekommen, wurde ich erstmal wieder mit schlimmen Schmerzen auf dem Flur warten gelassen. irgendwann kam eine Ärztin und machte einen Ultraschall. Alles Gewebe hatte sich gelöst und lag "in Startformation" vor dem Muttermund. ich konnte das Baby sehen, die gekrümmte Wirbelsäule. Mein Mann und mein Sohn fuhren nach hause, ich blieb alleine. Sie brachten mich auf ein Zimmer, stellten mir einen Toilettenstuhl dazu. Dort lief ich auf und ab, ging irgendwann auf den Stuhl. Blut kam schwallartig. Koagel, ich dachte es sei das Baby. Und irgendwann dann spürte ich etwas größeres, festeres auf dem Weg nach draußen. Als ich nach unten schaute, hing mein Kind aus mir heraus. Ich hatte den Impuls zu ziehen, tastete es ab. Merkte aber, dass es noch fest mit mir verbunden war (die Nabelschnur, wie ich später feststellte). Nach einer halben Stunde kam die Nachtschwester und fand mich, paralysiert, auf dem Stuhl. ich war nicht in der Lage gewesen, zu klingeln. Mein Kopf war komplett leer. Sie fragte nur ins Bad "alles in Ordnung?" und ich antwortete "Mein totes Kind hängt aus mir heraus und ich weiß nicht, was ich machen soll." ich weinte. Sie holte sofort zwei Assistenzärztinnen, die mich zum Bett begleiteten und abnabelten. Es war ein Mädchen. Danach wurde ich in den OP gebracht und die restlichen Gewebeteile per Küretage entfernt. Mittags konnte ich nach Hause. Ich wollte tagelang niemanden sehen, vor allem nicht meine Mutter, klammerte mich wie eine Ertrinkende an meinen vierjährigen. Behielt ihn als Seelentröster zu Hause. Sprach lieben Freundinnen stundenlange Nachrichten per Whatsapp auf, nur um es loszuwerden. Am Montag drauf (die Entbindung war mittwochs gewesen) ging ich wieder arbeiten. Abends rief meine Mutter an und fragte, ob ich etwa immer noch traurig sei, jetzt müsse es doch auch langsam mal gut sein. 

Seitdem sind jetzt fast acht Monate vergangen; unsere weiteren Bemühungen, noch ein Baby zu bekommen, bislang erfolglos. Ich habe Angstzustände wegen allem möglichen und Tiefs, tageweise. Denke, ich werde niemals nochmal schwanger. Hasse mich für meine Undankbarkeit; ich habe einen wundervollen Sohn, darf Mutter sein. Und doch hat diese Fehlgeburt einen tiefen Riss in meinem Herzen gelassen. Ich frage mich aber auch, ob ich dazu seelisch schon bereit wäre. Aber das Alter gestattet mir keine zweijährige Pause. Vor ein paar Tagen habe ich dem Drang, der immer größer wurde, nachgegeben und bin auf den Friedhof gegangen. Dort liegt meine Kleine zusammen mit anderen Sternenkindern in einem Urnengrab für die Kleinsten der Kleinen. Ich habe ein Steinherz mit dem Namen, den wir ihr gegeben hätten, beschriftet und den Tag ihrer Geburt. Dann habe ich lange lange dort gestanden und geweint. Meinem Mann erzähle ich davon nichts, er kann damit nichts anfangen. Meine Schwiegereltern liegen nicht weit entfernt dort in einem Urnengrab beigesetzt. Das hat mich getröstet - meine Kleine ist nicht allein. Und während ich das schreibe, weine ich schon wieder. Ich sehne mich danach, endlich wieder im Hier und Jetzt die Zeit mit meinem Sohn genießen zu können. Und nicht immer noch zu trauern.
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